Es war ein verregneter Sonntag und ich sass am Frühstückstisch und scrollte durch mein Facebook-Thread, als ich plötzlich über einen Artikel des Tagesanzeiger mit folgender Überschrift stiess:
«Regisseur Nicolas Stemann lässt Dürrenmatts Paradestück im Pfauen singen und sprechen. Hingehen!» (Tages-Anzeiger, 20.09.2021)
Bei einer solchen Aufforderung liess ich mich nicht zwei Mal bitten, liess alles liegen, vor allem die noch halbleeren Umzugskartons – die müssen noch warten – und stieg in den nächsten Zug nach Zürich. Auf der Fahrt begegnete ich zufällig einem ehemaligen Mitbewohner aus Berlin, mit dem ich mich zum Essen nach dem Stück verabredete. Vor dem Pfauen kaufte ich einem Lehrer eine Karte ab, die ursprünglich um die 70.- kostete für 50.- ab und freute mich auf die Aufführung des Dürrenmatt-Klassikers, das heuer sein 100-jähriges Jubiläum feiert.
Die Inszenierung war durchwegs postmodern und für jemand, dem das Stück noch unbekannt war (mein Fall) ein wenig verwirrend. Wer war nun die alte Dame? Ein Mann und eine Frau zugleich? Die ganze Show wurde in Stemanns Version von zwei Schauspielern und einer Musikerin geboten. Letztere spielte auf einem DJ-Set wilde Elektrokompositionen mit politischen Parolen, wie “Is this what is left of Europe?”.
«Dingdong! Wir stürzen uns drauf, greifen gierig nach den Sätzen – die, so kommts uns vor, nie besser gesprochen, sorgfältiger gewogen wurden. Die nie trefflicher zu Treffern umfunktioniert wurden in einer Gegenwart, die andere Sollbruchstellen hat als jene von 1956.» (Tages-Anzeiger, 20.09.2021)
Und tatsächlich, bei jedem Ding-Dong, das eine neue Paketlieferung ankündigte – hochaktuell in Corona-Zeiten – wurde mein Grinsen breiter. Bald war die ganze Bühne voller gelber Schuhe, die in Paketen angeliefert wurden. Dieses und andere Bühnenbilder trumpfen mit einer visuellen Stärke, die dem zeitgenössischen Theater eigen ist. Stemann inszeniert nach heutiger Manier: Er geht von einem quasi leeren Bühnenraum aus und füllt diesen peu à peu mit Objekten und Requisten, ein wenig wie das die zwei Westschweizer Regisseure Tomas Gonzales und Igor Cardellini in ihrer Vidy-Produktion “Showroom” gemacht haben. Darin war eine Schauspielerin (Rebecca Ballestra) die Verkörperung des Homo Sapiens Sapiens von den Anfängen der Menschheit bis zum Zeitalter der Robotisierung, das uns unmittelbar bevorsteht.
Stemanns Inszenierung überzeugt also mit schlichten und visuell einprägsamen Bühnenbildern, wobei der Text m.E. in den Hintergrund gerät. Jedenfalls hoffe ich, dass die Schüler, die neben mir sassen und wahrscheinlich das Stück im Unterricht gelesen hatten, mehr vom Inhalt mitbekommen haben als ich. Bei derart hohen Ticketpreisen, wäre der kulturelle Ausflug sonst für die Katz und Dürrenmatts Text nur noch ein Vorwand, um über die Hochfinanz zu lästern, die durch die Milliardärin Claire Zachanassian verkörpert wird, und vor den Türen des altehrwürdigen Pfauen-Gebäude geschäftet… Und was ist mit Güllen, Heimatstadt der alten Dame? Wohl ein Provinznest, in der Schweiz oder sonst wo in Europa, das auf eine reiche Steuerzahlerin erpicht ist.
Also: Hingehen und vorher Ticketpreise checken 😉