«All of us Strangers»

In Andrew Haighs neustem Film geht es um einen Mann, Mitte Vierzig, der seine Eltern mit 12 Jahren verloren hat: Autounfall. Das Schicksal will, dass dieser Mann Drehbuchautor ist und in einem neuen Hochhaus mit Sicht auf die Londoner City wohnt. Trotz des traumatischen Verlusts schlägt sich Adam (Andrew Scott) durchs Leben und möchte sein Leben neu schreiben als an seiner Tür ein hübscher Nachbar klopft. Dieser ist sturzbetrunken und mit japanischem Likör in der Hand macht er ihm Avancen. Der Film beginnt…

Wenig Schärfentiefe, langsame Kamerafahrt über einen Plattenspieler auf welchem Fingerabdrücke zu sehen sind. Adam tippt an seinem Laptop. Das Interieur der Wohnung ist geschmackvoll eingerichtet, jeder Gegenstand gewählt und beim Aufstehen trinkt Adam sein Gute-Nacht-Wasserglas aus, das natürlich auf einem Untersetzer gestellt war. Die Farbpalette ist gelborange bis feurig rot. So viel zu Haigh’schen Ästhetik, an der ich nichts auszusetzen hab und die mich auch ins Kino bewogen hat.

Doch dieser Plot? Geschrieben von Taichi Yamada und Andrew Haigh himself? Wie kann er nur? Hat ihm seine amerikanische Zeit nichts gelehrt? Haigh hat der Welt «Looking» geschenkt, die schönste Serie über eine Gruppe von Gays in San Francisco, die ich je gesehen habe. Ich weiss nicht, wie die Realität der Schwulen dort wirklich ist, doch in dieser Serie hat Haighs ein Lebensgefühl eingefangen, das herzerwärmend ist, und zwar weniger platt als dies «Tales of the City» (die alte und die neue Netflix-Serie) hingekriegt hat.

Haighs Durchbruch auf der internationalen Filmszene war sein Debütfilm «Weekend», der wie «All of us Strangers» in seinem Londoner Heimathafen spielt. Wie so oft sind Erstlingsfilme programmatisch für den Stil eines Autors (man denke an Dolan). «Weekend» ist ein nackter «All of us Strangers», d.h. ohne aufwendiges Colour Grading und raffiniertem selbstreflexivem Plot. Adam, der Drehbuchautor, sagt seinem Nachbarn, dass die Todesursache seiner Eltern nicht sehr originell sei und damit ist alles gesagt, denn der Film wird diesen vorzeitigen Tod der Eltern in zahlreichen pathetischen Wiedersehszenen zwischen dem nun erwachsenen Adam und seinen Eltern, gespielt von Claire Foy und Jamie Bell («Billy Elliott», UK 2000), deklinieren. Das traumatische Moment, das ihn während eines Ketamintrips im Nachtclub nach ihnen rufen lässt.

Jamie Bell und Claire Foy als Adams Eltern

Und wen stellt bitte Paul Mescal dar? Einen zehn Jahre jüngeren “queeren” Nachbarn. Eine Fata Morgana eher, denn Mescal gibt hier den oft kritisiereten Pay-For-Gay Topshot, und zwar nicht nur zum Vergnügen der weiblichen Zuschauerinnen. Eins muss ich ihm lassen: Dieser Schauspieler ist ausser seines feschen Aussehens auch für die Wahl und virtuose Verkörperung seiner Rollen bemerkenswert. Man denke an den aufstrebenden College guy Connor und seine verkorkste Liebesaffaire mit Marianne (Daisy Edgar Jones) in «Normal People» – Mescals Mainstream-Durchbruch – oder dem Single-Dad mit Tochter im Spanienurlaub in der low budget Produktion «Aftersun» von Charlotte Wells. Und jetzt versucht er sich auch noch als queeren Tragiker in «All of us Strangers».

Ich muss gestehen: Dieser Film hat mich schon beim Trailer-Schauen nicht für sich gewonnen und dennoch habe ich den Weg von der Skipiste in Obersaxen bis ins Churer Stadtkino auf mich genommen und leider habe ich die letzten paar Minuten verpasst, weil ich auf den Zug zurück rennen musste. Ohne den Schluss, die Desillusion, verraten zu wollen, hat mich dieser Film nicht in einen kathartischen Zustand nach aristotelischer Dramatiklehre gebracht. Augenwasser ja, doch so richtig konnte ich die Tränen nicht loslassen, sorry Haigh/Yamada, das ist Sophokles mit seinem König Ödipus besser gelungen.

Schluss mit dem pedantischem Theoriegefasel. Überzeugt euch doch selbst vom Film und lässt mir bitte einen Kommentar, falls auch ihr als Gegengift nach dieser Londoner Tragödie noch einen amerikanischen Happy End Film (in meinem Fall «Green Book») anschauen musstet.

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